Nicht nur die Geldbuße ist für die Piloten ein Problem, sondern auch der Eintrag in die Akte, denn dieser kann sich angesichts der Kreativität mancher Luftsicherheitsbehörden schnell zum ZÜP-Problem ausweiten. |
Betrachten wir einmal drei Pilotenfehler, die in den letzten Monaten von Flugbesatzungen begangen wurden und die beim für die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten und Regelverstößen im Luftverkehr zuständigen Referat LFR beim BAF aktenkundig wurden.
1) Die Freigabe im Kopf
Ein Verkehrsflughafen in Süddeutschland und ein Ausbildungsflug auf einem neuen Muster. Der erste Flug für den Piloten, der auf das neue Muster wechselt. Nach einem naturgemäß sehr intensiven Briefing vor dem Flug und am Rollhalt, in dem das anstehende Takeoff-Verfahren mehrmals und gründlicher als sonst in allen Einzelheiten durchgesprochen wurde, erhält die Besatzung die Freigabe zum Aufrollen auf die Piste.
Und dann passiert ein Fehler. Völlig auf das Takeoff-Verfahren fokussiert, beginnt der Schüler den Startlauf und der Lehrer greift nicht ein. Das Flugzeug hebt ohne Freigabe von der Piste ab.
Es folgt eine kurze Diskussion im Funk, in der der Lehrer den Fehler sofort zugibt und um Entschuldigung bittet: „Sorry for this.“ So wie das lange zwischen Profis üblich war. Es entstand keine Gefährdung und keine Staffelungsunterschreitung. Der Fall wäre dem Lehrer bestimmt im Gedächtnis geblieben und es wäre ein klassisches Ereignis für das Safety-Reporting-System der Flugschule, aus dem die Kollegen auch noch etwas lernen könnten (sofern es ihnen nicht schon selber mal passiert ist).
Dabei bleibt es für den Lehrer aber nicht. Es folgt Monate später ein Ordnungswidrigkeitsverfahren durch das BAF. Voraussichtliches Bußgeld: Zwischen 500 und 1.500 Euro.
2) Zwei vergessene Worte
Auch im zweiten Fall sind ein paar fehlende Worte ausschlaggebend. Diesmal allerdings die des Piloten. Ein PPL-Pilot führt mit einem SEP-Muster einen längeren IFR-Flug durch. Der Rückflug führt über die Alpen. Oder sollte es zumindest. Denn aufgrund von wechselnden Wetterbedingungen muss der Pilot mehrere Wetter-Deviations fliegen und oftmals die Flughöhe wechseln, was die vor dem Flug sorgfältig angestellte Treibstoffberechnung zunichte macht.
Der Pilot koppelt die neuen Verbräuche und Winde mit, aber nach dem dritten oder vierten Level-Change ist die Treibstoffsituation unklar. Eineinhalb Stunden vor dem Ziel beginnt er, sich nach Alternativen und Ausweichflugplätzen umzusehen und die Optionen für eine Diversion auch mit ATC zu prüfen. Die Heimat lockt, aber die Treibstoffsituation ist einfach unsafe. Es wird bald dunkel und das Wetter wird zum Ziel hin eher schlechter.
Mitten in dieser Phase zuckt auch noch die Kraftstoffdruckanzeige. Der Pilot hat seine Frau und seine zwei kleinen Kinder an Bord. Kein Raum für Experimente oder Unsicherheit! Er fliegt im Luftraum Echo und in VMC und trifft eine Entscheidung: Genug! Er teilt dem Lotsen, mit dem er vorher schon eventuelle Ausweichflugplätze diskutiert hat, mit, dass er einen geeigneten Flugplatz direkt querab sieht und dort landen wird. Sechs Minuten später ist er am Boden. In einem Telefonat mit dem Lotsen erläutert er nochmals seine Entscheidung.
Über ein Jahr später eröffnet das BAF ein Ordnungswidrigkeitsverfahren gegen den Piloten. Er sei von seiner Freigabe abgewichen. Er hatte nämlich als er ankündigte zu landen nicht gesagt „Cancelling IFR“. Strafe: 500 Euro und ein Eintrag in die Pilotenakte.
Sicher, der Funk war in der Endphase aufgrund von Stress nicht mehr unbedingt Apollo-13-mäßig. Die Treibstoffsituation war unklar und der Pilot hatte vorher auch eine andere Möglichkeit zum Tanken verstreichen lassen. Aber: Der Pilot hatte klar gesagt, dass er aufgrund von Treibstoffmangel auf dem direkt vor ihm gelegenen Ausweichflugplatz landen würde. Er flog im Luftraum E und in VMC. VFR war also zulässig und der Flugregelwechsel eine legitime Entscheidung des Piloten, auch wenn er die zwei Worte „cancelling IFR“ nicht gesagt hat.
Hätte der Pilot der Saratoga in unserem Unfallbericht am Ende dieser Ausgabe mit einer unklaren Treibstofflage konfrontiert auch nur irgendwann eine ähnlich beherzte Entscheidung getroffen, wären drei Erwachsene und zwei Kinder noch am Leben und drei weiteren Kindern wären schwere Verletzungen erspart geblieben.
Ich kann mir unter Flugsicherheitsgesichtspunkten beim besten Willen kein kontraproduktiveres Verhalten einer Behörde vorstellen, als diese Diversion zu bestrafen.
3) Touchy beim Touch and Go
Unser drittes Beispiel befasst sich mit einer eher alltäglichen Situation. Ein nicht so verkehrsreicher Flughafen im schönen Nordhessen. Lehrer und zwei Schüler drehen in einem MEP-Flugzeug ihre Runden für die MEP IFR MPL Ausbildung. Bei der x-ten Runde ist das Flugzeug zur Landung freigegeben. Die Crew brieft aber einen Touch-and-Go und führt diesen auch aus.
Der Fehler wird später bemerkt, man entschuldigt sich, eine Gefährdung von irgendwem entstand selbstverständlich nicht. Der Fluglehrer war übrigens früher selber Lotse und ist absoluter Profi.
Nach Wochen kommt die Abrechnung vom BAF: Ordnungswidrigkeit und eine voraussichtliche Strafe von mehreren Hundert Euro!
Wir hätten noch zahlreiche weitere Beispiele. Im Approach zu früh gesunken oder im schlechten VFR-Wetter ein ED-R angekratzt. Jeden dieser Fehler habe ich in den letzten 28 Jahren schon mindestens einmal begangen. Bei vielen erinnere ich mich noch genau, wie es zu der Situation kam, was die beitragenden Faktoren waren. Und ich meine, ich hätte etwas daraus gelernt.
Früher konnte so etwas mit einem Gespräch unmittelbar nach dem Flug geklärt werden. Heute beginnt Monate später eine langwierige und hässliche formaljuristische Auseinandersetzung. Aus der lernt man auch, aber eben andere Dinge ...
Wer reportet sowas?
Vor allem in unserem ersten und letzten Beispiel muss man sich fragen: Um Himmels Willen – welcher Lotse reportet sowas? Sind Lotsen alle zu 100 % fehlerfrei? Meine persönliche Erfahrung sagt: Eher Unwahrscheinlich.
Stellen Sie sich vor, so was passiert an einem amerikanischen Trainingsplatz. Touch-and-Go statt Landung. Das hätte wahrscheinlich gar keine Folgen gehabt. Außerdem wird man dort sinnvoller Weise für alle drei Varianten auf einmal freigegeben: „Cleared for the option“ erlaubt Landung, Go-Around oder Touch-and-Go.
Wie soll man auch einen halbwegs sinnvollen Trainings- oder Prüfungsflug zusammenstellen, wenn man nicht ggf. mal einen Go-Around oder Touch-and-Go überraschend einstreuen kann? Ein geplanter Touch and Go ist im SEP eine eher fade Angelegenheit. Als Lehrer oder Prüfer möchte ich sehen, ob der Kandidat das auch überraschend kann. Denn darin liegt die Schwierigkeit.
Auch der verfrühte Takeoff aus Beispiel eins hätte nicht unbedingt aktenkundig werden müssen. Genau der gleiche Fehler ist mir auch schon passiert. Damals hatte der Lotse beim Anrollen aber geistesgegenwärtig noch eine Freigabe hinterhergeschickt (Danke!).
Das BAF hat allerdings strikte Anweisung an die DFS und die anderen in Deutschland tätigen Flugsicherungsunternehmen herausgegeben, nach der alle, wirklich alle Verstöße zu melden seien. Sonst drohen dem Lotsen Konsequenzen. Und was einmal beim BAF gemeldet ist, führt fast immer zu einem OWI-Verfahren. Das Referat Luftraum, Flugverfahren, Recht (LFR) unter der Leitung von Wolfgang Ruths ist ganz und gar nicht dafür bekannt, Verfahren einzustellen.
Unter der Hand berichten uns auch Mitarbeiter, dass bei den OWIs eine bestimmte Quote zu erfüllen sei. Erfolgskriterium ist nicht Flugsicherheit, sondern eine gut gefüllte Kasse!
Strafen oder aufdecken?
Grundsätzlich möchten wir hier nicht der Anarchie das Wort reden. Wirkliche Verstöße müssen geahndet werden. Ahndung kann im Luftverkehr aber nicht das einzige und höchste Interesse der Aufsichtsbehörde sein.
In der Wissenschaft vom menschlichen Leistungsvermögen unterscheidet man zwischen vier Arten von Fehlern in der Luftfahrt (Strauch, 2004: Reason, 1990):
- Slips: Einfache manuelle Fehler, z. B. falscher Schalter.
- Lapses: Aufgaben werden nicht zu Ende oder unvollständig ausgeführt, z. B. unterbrochene Checkliste.
- Mistakes: Ein fehlerhafter Plan wird ausgeführt.
- Violations: Handlungen weichen von den gesetzten Standards oder Vorschriften ab, sei es mit Absicht oder versehentlich.
Violations können auch das Ergebnis von Slips, Lapses oder Mistakes sein. Oder sie können absichtlich begangen werden.
Im Fall einer absichtlichen Violation ist die Frage der Ahndung unstrittig. Doch in keinem der drei vorangegangenen Beispiele handelt es sich um einen absichtlichen Verstoß.
Nun fragt im Straßenverkehr natürlich auch niemand, ob ein Geschwindigkeitsverstoß absichtlich begangen wurde oder weil der Fahrer nicht aufgepasst hat. Spielt keine Rolle. Der Fahrer ist verantwortlich.
Auch der Pilot ist verantwortlich, Slips und Lapses passieren aber nun mal. Und im Luftverkehr sollte das Interesse der zukünftigen Fehlervermeidung dem Interesse an der Strafverfolgung übergeordnet sein.
Den beides zusammen geht nicht. Grund: Die Mehrzahl der Fehler bleibt unentdeckt. Und wenn ein Fehler aufgedeckt wird, ist eine ehrliche und offene Mitarbeit der Beteiligten notwendige Voraussetzung für eine erfolgreiche Aufarbeitung. Wer das OWI-Verfahren im Blick hat, der reportet entweder gar nicht oder mit Blick auf das Verfahren.
Erfolgreiche Luftfahrtnationen haben das kapiert. Die USA bieten mit dem Aviation Safety Reporting System der NASA eine Möglichkeit, die es Piloten erlaubt, einen Fehler oder Verstoß selber zu melden. Der Anreiz: Tut man dies und ist der Fehler nicht absichtlich passiert, wird dies als kooperatives Verhalten gewertet und man kommt um eine Strafe herum. Jedenfalls einmal alle fünf Jahre.
Der Ertrag: Eine weltweit einmalige Datenbasis ehrlicher Safety-Reports. Die anonymisierten Reports sind jedem Forschungsprojekt im Bereich der Luftfahrt zugänglich. Und die über 1,3 Mio. Berichte seit 1981 haben sicherlich einen Anteil daran, dass das US-GA-System messbar sicherer ist als die Allgemeine Luftfahrt in Europa.
Auch die EASA hat sich diesem wissenschaftlichen Konsens angeschlossen. In zahlreichen Workshops und Präsentationen der Agentur wird dieses Prinzip der Just Culture als wesentlicher Bestandteil einer funktionierenden Sicherheitskultur behandelt.
Und auch die Industrie hat das schon lange begriffen und setzt die extrem umfangreichen Überwachungsmöglichkeiten moderner Flight-Data-Monitoring-Systeme in einem Konzept der Just Culture um. Denn ohne die Akzeptanz und Mitarbeit der Besatzungen sind diese Daten wertlos. In einer Deklaration stellten sich im Oktober 2015 nahezu alle Verbände der gewerblichen Luftfahrt hinter das Konzept.
Safety-Management und Reporting-Systeme wertlos
Das Vorgehen des BAF bringt die Allgemeine Luftfahrt in Deutschland aber nicht nur um die Chancen und Erträge einer Just Culture. Das Amt torpediert auch bestehende Strukturen. Denn Safety-Management und Reporting-Systeme kann man in diesem Umfeld auch sein lassen.
Als ATO und gewerblicher Flugbetrieb sind wir verpflichtet, Berichte über Vorkommnisse und Fehler zu sammeln und auszuwerten. Das ist der Kern des EASA Safety Management Systems (SMS). Kein Mensch wird mir im Flugbetrieb aber auch nur irgendetwas reporten, wenn nur der Hauch einer Chance besteht, dass das BAF den Report zu Gesicht bekommt.
Das SMS wird eines unverzichtbaren Bestandteils beraubt. Hinzu kommt, dass es mit dem Bußgeld ja auch nicht getan ist. In aller Regel erfolgt bei diesen Verfahren eine Eintragung in die Pilotenakte. Das stellt für Lizenzinhaber ein unkalkulierbares Risiko dar. Denn damit sind bei der ZUP der Willkür Tür und Tor geöffnet. Über Beispiele, bei denen auch Ordnungswidrigkeiten schon zu Problemen mit der Zuverlässigkeitsprüfung führten, haben wir bei Pilot und Flugzeug mehrfach berichtet. Bei einer OWI im Luftfahrtbereich liegt dieser Kunstgriff für eifrige Zuverlässigkeitsprüfer noch näher.
Piloten sind schon deshalb gut beraten, eine BAF-OWI mit allen Mitteln zu bekämpfen. Mit Sicherheit im Luftverkehr hat das alles dann wirklich nichts mehr zu tun.
Fazit
Just Culture bedeutet keinesfalls „anything goes“. Wer absichtlich Vorschriften verletzt, keine NOTAMS liest oder zum dritten Mal mit mieser Planung auffällig wird, der hat die ungeteilte Aufmerksamkeit des BAF zweifellos verdient.
Einfache handwerkliche Fehler sind aber kein Fall für die OWI-Mühle. Das rabiate Vorgehen der Behörde würgt jedes freiwillige Reporting-System unmittelbar ab. Die Auseinandersetzung mit Fehlern im Flugbetrieb wird so unmöglich, ein Lernen aus den offen berichteten Vorkommnissen anderer Besatzungen findet nicht mehr statt.
Das BAF muss von der Möglichkeit Verfahren auch einzustellen Gebrauch machen und Lotsen brauchen dringend wieder einen Ermessensspielraum wenn es um die Frage geht was man dem Amt meldet und was nicht. Andere europäische Behörden wie das BAZL machen diesen Kompromiss aus Strafverfolgung und Safety-Interessen vor, ohne das in ihrem Regelungsbereich das Chaos ausbricht.