
Anschnallen bitte. Tausende Flugzeuge sind in Europa von einem Grounding der EASA bedroht, weil den Gurtüberholern im Jahr 2003 ein Stück Papier fehlte. |
Unter der Überschrift
Bitte anschnallen! EASA regelt die Gurtinstandhaltung berichteten wir bereits Ende Januar 2010 über die Problematik. Es geht – wie so oft – um die Papierlage. Niemand ist zu Schaden gekommen und es wurden auch keine defekten Produkte gefunden. Es fehlt lediglich an Papier. Die Auswirkungen allerdings sind gigantisch. Ausgangslage ist dies: Um Flugzeuggurte instand zu setzen, muss ein Instandhaltungsbetrieb nach EU-Verordnung 2042/2003 Part 145.A.45 behördlich zugelassene Instandhaltungsunterlagen des Inhabers der Musterzulassung haben.
Dies ist freilich aus diversen Gründen nicht möglich. Zum einen gibt es viele Hersteller schlicht nicht mehr. Die benötigten Unterlagen sind damit gar nicht mehr beschaffbar. Zum anderen geben die vornehmlich US-amerikanischen Hersteller diese Unterlagen nicht heraus. Denn in den USA werden diese zur Instandhaltung nicht benötigt. Der Hersteller wird also ganz sicher nicht seine wichtigsten Design-Unterlagen ins Ausland geben, wo er im Falle z.B. einer Produktkopie noch nicht einmal Rechtsschutz genießen würde.
Der europäische Gesetzgeber macht also eine praxisferne Vorschrift, die in der Realität nicht erfüllt werden kann. Soweit wäre dies kaum eine Neuigkeit.
Vor zwei Jahren allerdings begann die EASA in einer zweigleisigen Maßnahme, die präzise Einhaltung genau dieser Vorschrift durchzusetzen. Zum einen wurden die nationalen Luftfahrtbehörden angewiesen, die Genehmigungen der Instandhaltungsbetriebe dort zu widerrufen, wo keine Herstellerunterlagen vorlagen. Einige Länder gingen da mit Rücksicht auf ihre Betriebe eher behutsam vor, Deutschland natürlich nicht, hierzulande wurden die Genehmigungen ohne Rücksicht auf die jahrzehntelang unter Aufsicht des LBA problemlos eingespielte Praxis von eben dieser Behörde über Nacht entzogen. Weil nach neuem EU-Recht ein (nicht beschaffbares) Stück Papier fehlte.
Zwei Jahre nach diesem Kahlschlag sind von europaweit sieben Gurtüberholern aus Schweden, Dänemark, Holland, Spanien, Schweiz, Österreich und Deutschland nur noch zwei Firmen übrig, von denen sich eine mit gerichtlichen Mitteln gegen den Entzug der Genehmigung wehrt.
An der tatsächlich geübten Überholpraxis, hat sich freilich gar nichts geändert. Nach wie vor werden Gurte überholt. Nach wie vor werden dazu hochwertige und luftfahrtzugelassene Materialien verwendet. Nach wie vor wird die Überholung dieser Einfachst-Teile nicht nach Herstellerangaben, sondern nach jahrzehntelang bewährten Industriestandards von qualifizierten Handwerksbetrieben durchgeführt. Nur eben nicht mehr in Europa. Sondern in den USA. Denn die dort überholten Gurte durften bislang per Dual-Release ganz legal in europäische Flugzeuge eingebaut werden. Im Export von Arbeitsplätzen nach Nordamerika war die EASA also ausgesprochen erfolgreich.
Natürlich möchte niemand nun den Amerikanern die Überholung der eigenen Gurte verbieten. Wie auch? Und es ist rundheraus positiv, dass wenigstens in einigen Teilbereichen die Bestimmungen des bilateralen Abkommens zwischen der EASA und der FAA auch tatsächlich dazu führen, dass US-Teile hierzulande eingebaut werden dürfen.
Nur: Durch die sklavische und reichlich praxisferne Durchsetzung einer nicht erfüllbaren Vorschrift hat die EASA die eigenen Betriebe arbeitslos gestellt, während die FAA, die im Grundsatz mit dem gleichen Problem konfrontiert war, durch die Herausgabe einiger Rundschreiben (21-25A) für diesen Spezialfall verbindliche Standards und Verfahren festgelegt hat, nach denen diese sehr einfachen Baugruppen auch ohne Herstelleranweisungen instand gesetzt werden können.
Die sehr unterschiedliche Arbeitsweise beider Behörden konnte kaum deutlicher zu Tage treten. Hierzulande wird untersagt, entzogen und ohne Rücksicht auf Verluste und die konkrete Problemstellung platt gemacht. In den USA wird dort, wo nötige Unterlagen nicht beschafft werden können, eben durch die Behörde ein praxistauglicher Leitfaden erstellt, nach dem die Arbeiten durchgeführt werden können.
Jetzt kommen die Halter dran
Mit der erfolgreichen Plattmachung der europäischen Gurtüberholer gibt sich die EASA indes noch lange nicht zufrieden. Denn jetzt kommen die Halter dran. Die ohne das entscheidende Stück Papier überholten Gurte sind ja noch in tausenden Flugzeugen in Europa eingebaut.
Bereits Anfang 2010 scheiterte die EASA mit der
PAD 10-010, die einen Austausch dieser Gurte vorsah. Man scheiterte allerdings nicht, weil die Maßnahme als übertrieben, unbezahlbar und undurchführbar erkannt wurde, sondern weil sie offenbar als nicht umfassend genug verworfen wurde. Betroffen waren nämlich nur bestimmte Überholbetriebe, die Liste war also unvollständig.
Am 27. November 2012 hat die EASA nun den zweiten Versuch gestartet, den Großteil der europäischen GA-Flotte zu grounden. Und diese
PAD 12-151 fordert in der Tat Erstaunliches: Alle Gurte, die nach dem 28. September 2003 (Inkrafttreten der entsprechenden EU-Verordnung), überholt wurden sollen nun daraufhin überprüft werden, ob der Überholungsbetrieb bei Durchführung der Arbeiten die entsprechenden Herstellerunterlagen vorliegen hatte. Das Verfahren ist abenteuerlich und dürfte für regen E-Mail-Verkehr und reichlich Diskussionsstoff sorgen: Der Halter oder die von ihm beauftragte CAMO soll den Überholungsbetrieb kontaktieren und sich von diesem bestätigen lassen, dass der Hersteller ihn (den Gurtüberholer) dazu autorisiert hatte. Falls nicht, müssen die betroffenen Gurte innerhalb von 18 Monaten ersetzt werden.
In aller Regel kann der Halter sich den Anruf beim Gurtüberholer sparen. Betriebe, die es schon seit 20 Jahren nicht mehr gibt, werden nur in den seltensten Fällen nach 2003 eine Autorisation an einen europäischen Gurtüberholer ausgestellt haben. Aber auch existierende Hersteller geben diese Unterlagen kaum heraus, und ganz sicher nicht ins Ausland. Und neue Gurte sind für viele alte Flugzeuge gar nicht zu bekommen. Das Flugzeug ist also auf absehbare Zeit gegroundet. Aber die Papierlage stimmt dann wenigstens!
Fazit
Zur Begründung des Massen-Groundings durch die PAD 12-151 führt die EASA eine nicht näher spezifizierte Studie an, nach der die als Ersatz für die Jahrzehnte alten Gurtmaterialien verwendeten Gewebe etwas andere Eigenschaften aufweisen als die Originalgewebe (Überraschung!) und daher die Dehneigenschaften und Festigkeiten nicht der Originalzulassung entsprechen. Es geht hier um hypothetische Gefahren, Zitat:
As a consequence, safety belts and torso restraint system could fail to perform their intended function to protect each occupant during an emergency landing condition and to minimise the effects of survivable accidents.
Die EASA macht diese Studie jedoch nicht öffentlich, Kommentare zur AD können sich also nicht auf die eigentliche Problemstellung beziehen. Und leider ist die AD, die weitreichende Auswirkungen auch auf deutsche Halter hat, auch nur in englischer Sprache verfügbar:
http://ad.easa.europa.eu/ad/12-151
Die Kommentierungsphase zur PAD 12-151 endete auch schon am 27. Dezember 2012. Ohne die zugrunde liegende Studie und eine deutsche Übersetzung ist eine qualifizierte Stellungnahme für deutsche Halter ohnehin nur schwer möglich. Das Feedback-System der EASA, mit dem die EU-Behörde bemüht ist, ihre fehlende demokratische Legitimation auszugleichen, erweist sich auch in diesem Fall mal wieder als Treppenwitz. Aber Hauptsache die Box für „Stakeholder Participation“ ist gecheckt! Wer der EASA aber trotzdem seine Meinung zur PAD 12-151 mitteilen möchte, der kann dies unter
ADs@easa.europa.eu tun.
Natürlich ist niemandem in den letzten Jahrzehnten durch einen fehlerhaft überholten Gurt in Europa auch nur ein Haar gekrümmt worden. Es geht um Papier und hypothetische Gefahren. Und dass die EASA die Maßnahme auf Gurte mit GÜ-Datum nach 2003 beschränkt und die genau gleich überholten Gurte vor 2003 unangetastet lässt, zeigt, dass man auch in Köln weiß: Eine akute Gefahr besteht hier nicht.
Auch ist die Überholung eines Gurts nicht unbedingt High-Tech. Es werden – wenn nötig – Beschläge und Verschlüsse getauscht und ein neues Gurtband eingesetzt. Kosten: 350 Euro. Dabei wurden in Deutschland vor 2003 vom LBA genehmigte Reparaturanweisungen und Materialien verwendet. Es ist also nicht so, dass vor 2003 wildes Chaos herrschte. In anderen Ländern war das Verfahren ähnlich.
Nehmen wir an, die Betriebe würden den von der EASA geforderten Design-Approval (DOA) anstreben, also selber Entwicklungsbetrieb werden, was es ihnen dann auch erlauben würde ohne Herstellerangaben zu überholen. In diesem Fall würden diese Einfach-Arbeiten angesichts von Approval-Kosten von weit über 100.000 Euro plus Folgekosten auf rund 4.000 Euro pro Gurt steigen. Alles wegen eines fehlenden Stück Papiers wohlgemerkt.
Dass die EASA da nun einen beispiellosen Kahlschlag – erst bei den Betrieben, dann bei den Haltern – veranstaltet, liegt nach unserer Ansicht auch an einem handfesten Behördenclinch. Denn die nationalen Luftfahrtbehörden (NAAs) waren in der Umsetzung der ja eigentlich seit 2003 geltenden Regeln aus den hier dargelegten Gründen sehr zögerlich. Oder anders ausgedrückt: Selbst in Deutschland ignorierte man diesen Quatsch bis Franceso Banal, Approvals & Standardisation Director der EASA,
im April 2012 die NAAs ausdrücklich anwies, hier durchzugreifen.
Und während das LBA dies zumindest bei den Betrieben dann durch Entzug der Genehmigung auch tat, hielten andere NAAs an ihrer praxisorientierten Gangart fest. Es geht also nicht nur um Gurte und fehlende Herstelleranweisungen – es geht zwischen EASA und NAAs auch darum, wer der Boss ist. Und – das lehrt die Lebenserfahrung – dies bedeutet für Halter und Betriebe: Helm ab zum Gebet!
Kommentar
Wir werden bei Pilot und Flugzeug oft gefragt, weshalb wir in so vielen Punkten eine so EU-kritische Haltung an den Tag legen. Kurz gesagt: That’s why!
Es tritt eine europäische Verordnung in Kraft, die nationales Recht bricht. Diese ist für Reparaturen an einer 747-Tragfläche (hier ist es bestimmt eine gute Idee, Herstelleranweisungen zu befolgen!) ebenso gültig wie für das Einsetzen eines neuen Gurtbandes am „Sitz“ genannten Gartenstuhl einer 1966er C172. Die Praxis zeigt: Die gemachten Vorgaben können gar nicht erfüllt werden.
Die nationalen Behörden ducken sich weg und schauen in die andere Richtung. Die eingeübte und ordentlich genehmigte nationale Praxis geht also erst mal weiter. Irgendjemand kommt irgendwo irgendwann darauf, dass da die Papierlage nicht stimmt. Im folgenden Fegefeuer der Behördeneitelkeiten bleiben dann erst die Betriebe und dann die Halter auf der Strecke, während sich an der Praxis (via USA) nichts, aber auch gar nichts ändert.
Natürlich interessiert das alles auf europäisch-politischer Ebene keinen Menschen. Ein paar hundert Arbeitsplätze werden platt gemacht? Das spielt in Brüssel wirklich keine Rolle. Ein paar alte Privatflieger müssen am Boden bleiben und für den Rest wird es 1.000% teurer? „Next topic please.“
Weit über diesen Fall hinaus beunruhigt uns jedoch zunehmend fehlende Rechtssicherheit in Europa. Es ist ja nicht so, dass die Halter hier einen Gurt aus dem VW-Käfer einfach in die Piper eingebaut hätten. Vielmehr haben sie für gutes Geld bei einem ordentlich vom Luftfahrtbundesamt genehmigten Betrieb eine Überholung durchführen lassen. Und jetzt sind sie trotzdem dran. So etwas mag unvermeidlich sein, wenn sich greifbare Sicherheitsdefizite ergeben. Dies ist hier aber nicht der Fall. Es fehlt lediglich ein Stück Papier.
Auch die Betriebe haben nicht einfach drauflos repariert. Sie haben Reparaturanweisungen geschrieben und für jeden Aspekt ihrer Arbeit Genehmigungen des LBA erhalten. Und diese Betriebsinvestitionen sind per EU-Verordnung von heute auf morgen wertlos. Ohne dass es einen greifbaren Grund dafür gäbe. So etwas musste man bislang eher bei einer Investition in Simbabwe oder China befürchten. Nicht aber bei einem deutschen Unternehmer, der im Einklang mit allen (zahlreichen!) Vorschriften des Bundesrechts einen ordentlich genehmigten Betrieb gründet und erfolgreich betreibt.
Solche und ähnliche Erfahrungen machen Gewerbetreibende, Mediziner, Ingenieure und andere Fachleute in vielen Bereichen, nicht nur in der Luftfahrt. Nicht geschäftliche Risiken, die Mitbewerber oder Schwankungen in der Gunst der Kunden stehen bei den kleinen Unternehmen und Selbstständigen im Vordergrund, sondern die nächste EU-Verordnung. Bürokraten, Gleichschaltungs-Fanatiker und ein Gesetzgeber ohne direkte demokratische Legitimation, der mit maximaler Ambition und oft geringster Detailkenntnis ganze Branchen praktisch aus Versehen wegregelt, sind nach unserer Auffassung drauf und dran, das wichtigste Projekt in der Geschichte Europas in den Sand zu setzen.
Und das ist ein Grund, weshalb „Europa“ und „EU“ bei uns wie bei vielen anderen Unternehmen inzwischen vor allem eine negative Konnotation hat.