Bleibt dann nicht trotzdem in der Gesamtbetrachtung überwiegend ein großer Nutzen der Impfung?
Da bin ich absolut Deiner Meinung, Max - genau das ist die Gretchen-Frage bei jeder Art von medizinischer Primärprophylaxe!
Betrachten wir doch einmal, um etwas die Emotionen herauszunehmen, eine absolut fiktive Krankheit "X". Diese Krankheit "X" sei gekennzeichnet durch eine IFR (infection fatality rate) von 1:1.000, d.h. einer von 1.000 Infizierten stirbt daran. Mathematisch ergibt sich dann in Abhängigkeit von der Krankheitsinzidenz die blaue Kurve in Abb. 1 - je mehr Menschen sich infizieren, umso mehr Tote sind zu beklagen.
Nehmen wir weiter an, wir hätten eine Impfung gegen Krankheit "X" mit einer VE (vaccine efficacy) von 95% und einer VFR (vaccination fatality rate) von 1:100.000 entwickelt. Der Einsatz dieser Impfung ergibt mathematisch die rote Kurve in Abb. 1. Wie man unschwer im rechten Teil der Grafik erkennen kann - solange "X" grassiert und mehr als 10% der Bevölkerung infiziert sind, überwiegt ganz klar der Nutzen.
Durch den Einsatz unserer Impfung geht die Krankheitsinzidenz nun aber zurück, sodass es sich lohnt, den linken Teil der Grafik genauer zu betrachten. Abb. 2 zeigt den exakt gleichen Sachverhalt wie Abb. 1, nur in logarithmischer Skalierung. Wie man sieht, schneiden sich beide Kurven in diesem Beispiel bei einer Inzidenz von 1.000. Oberhalb dieses Schnittpunkts überwiegt der Nutzen, unterhalb überwiegen die Kollateralschäden. Ist "X" also hinreichend selten geworden, dann sterben mehr Menschen durch die Impfung als durch die Krankheit.
Diesen Break-even-point gibt es bei JEDER Impfung. Er ist einer der Gründe dafür, warum die Medizin zwar gegen viele Krankheiten durchaus wirksame Impfungen kennt, es aber dennoch (mit Ausnahme der Pocken) nicht geschafft hat, diese Krankheiten auch auszurotten. Je erfolgreicher eine Eradikationskampagne voranschreitet, umso unmoralischer wird ihre Weiterführung, weil ab einem bestimmten Punkt gesunde Menschen wissentlich geopfert werden müssten, um das hehre Ziel zu erreichen. In der Bioethik wird das oft als "extinction dilemma" bezeichnet.
Die genaue Lage dieses Schnittpunkts ist neben der Effektivität und Dauer des Impfschutzes ganz entscheidend vom Verhältnis IFR zu VFR abhängig. Je harmloser das Virus und je gefährlicher die Impfung, desto weiter verschiebt er sich nach rechts (Abb. 3 und 4), und umgekehrt. Die Kenntnis der Lage dieses Break-even-points wiederum ist unverzichtbar für die evidenzbasierte Risikoabschätzung und Impfentscheidung eines jeden Einzelnen. In Abb. 4 zum Beispiel würde eine Impfung erst ab einer Inzidenz von ca. 20.000 einen Sinn machen. Es ist die ureigenste Aufgabe des staatlichen, vom Steuerzahler finanzierten Paul-Ehrlich-Instituts, uns allen diese Information zu liefern. Die beharrliche Weigerung des PEI, seinem gesetzlichen Auftrag nachzukommen, ist in meinen Augen ein Skandal, der dringend - auch strafrechtlich - aufgearbeitet gehört.
Frohe Weihnachten!