>> Und trotzdem haben wir dauernd das Gefühl, wir müssten alles ändern.
Das müssen wir auch, Lutz. Klar: schlimmer geht immer, aber von "gut" kann hier keine Rede sein. Wir leben in einer Gesellschaft, die die Menschen durch Angst und Druck leitet. Das beginnt im Kindergarten und endet bei der Sterbeversicherung. Schule, Ausbildung, Beruf, in den meisten Fällen auch die Beziehungen: alles weitestgehend Angst und Druck.
Angst vor dem Abstieg, Angst vor der Insolvenz, vor dem (jeweiligen) Chef, vor der gesellschaftlichen Ächtung, Angst vor dem Alleinsein, vor den Konkurrenten, vor den Chinesen, vor dem Klimawandel... Wir haben das so verinnerlicht, dass wir gar nicht mehr verstehen, dass das keinesfalls so sein muss. Mehr noch: es ist nicht artgerecht. Wir könnten viel mehr und wären viel zufriedener, wenn wir anfangen könnten, über uns hinaus zu wachsen anstatt uns zu fürchten.
Die Angst und Druck Gesellschaft verstärkt Ungerechtigkeiten. Wer Angst hat, morgen hinunterzufallen, ist deutlich weniger geneigt, globale Ungerechtigkeiten anzugehen. Da ist dann - verständlicherweise - das eigene Scheffel deutlich näher.
Die Angst und Druck Gesellschaft verhindert auch Innovationen. BASF hat die Frage untersuchen lassen, warum in den letzten 15 Jahren keine wesentlichen neuen Erfindungen mehr in der Chemie stattgefunden haben. In einer Studie wurde herausgefunden, dass dies vor allem daran läge, dass neue Erfindungen zu komplex für einzelne Ingenieure seien. Und Teams funktionieren nicht, solange nicht alle ihr gesamtes Wissen auf den Tisch legen. Das wiederum tun sie nicht, weil sie Angst haben, sich dadurch selbst abzuschaffen. Für neue Erfindungen in komplexen Umgebungen braucht es inzwischen aber genau solche Attitüden, und die sind - genau: Fehlanzeige.
Dabei beutet die Angst und Druck Gesellschaft unseren Planeten aus. Die Ressourcen sind endlich, warum verbrennen wir dann immer mehr Öl und Gas? Haben wir eigentlich noch alle Latten am Zaun? Aber wer Angst vor Veränderungen hat, der nimmt das Öl von heute, und glaubt in seiner Kurzsichtigkeit tatsächlich, dass sei wohl das kleinere Übel. Tolle Wurst.
Der oben angesprochene Neurobiologe Gerald Hüther behauptet zum Beispiel im Thema Angst und Druck und Schulen: so, wie wir unsere Kinder heute in den Schulen Wissen vermitteln, wäre es hirntechnisch nachweisbar besser, wir würden unsere Kinder statt in die Schule an den Baggersee schicken. Diese alte preußische Denke, "mit Disziplin und harter Arbeit kommen wir weiter" ist sowas von 2013 (würde meine Tochter jetzt sagen).
Ich finde, Lutz, da müssen wir ran! Je früher desto besser. Ein "weiter so" ist bekloppt.