"Wie man, ausgerechnet direkt nach dem 75-Jährigen der Auschwitzbefreiung, behaupten kann, dass irgendjemand, der für rassische Verfolgung gewesen wäre, anständig sein sollte, ist mir schleierhaft."
Es ist off topic, aber mir ist wichtig, alternative Sichtweisen zu dem hier geäusserten Gedankengut aufzuzeigen - und zu begründen. Vielleicht können es zumindest einige nachvollziehen...
So wenig wie heute jeder AfD Wähler alle Ziele der AfD untertützt, so wenig war jedes NSDAP Mitglied ein Sadist.
Wir leben heute wieder in einer Zeit, wo das kleinere Übel gewählt wird - sei es Trump, Johnson oder auch die AfD. Viele Menschen in den neuen Bundesländern fühlen sich und ihre Bedürfnisse von den etablierten Parteien weder gesehen noch berücksichtigt. Sie fühlen sich belogen und betrogen - was ich locker hinnehmen kann, solange es mir wirtschaftlich gut geht. Und Politikern mangelt es an Glaubwürdigkeit - was Eskens & Co gerade mal wieder bewiesen haben. Sie sind auch als das kleinere Übel gewählt worden mit dem einzigen wichtigen Versprechen, die GroKo zu verlassen... Es hat keine Woche gedauert, bis sie sich selbst in ihre eigene Bedeutungslosigkeit katapultiert haben. Hingegen kämpfen Trump und Johnson darum, ihre Wahlversprechen auch einzuhalten und so um ihre Glaubwürdigkeit. Der eine mit der Mauer zu Mexico und der andere für Brexit. Auch wenn ich beide bzw deren Ziele nicht mag - aber die zur Wahl stehenden Alternativen waren nicht wirklich besser....
Ein älterer belgischer Pater, bei dem ich einige Zeit Transaktionsanalyse lernte, erzählte mir von seinem Familientreffen. Von seiner Nichte im Teenageralter, die im Libanon mehrfach vergewaltigt wurde. Er lud sie auf seinen Schoß ein, hielt sie und sagte nur einen Satz: "Du hast keine Schuld". Da konnte sie weinen und ihren Schmerz fliessen lassen und fühlte sich gesehen und gewürdigt. Es brauchte keine Verurteilung der Täter zur Heilung ihrer Seele. Ganz im Gegenteil würde eine moralische Verurteilung nur die Täter und die Tat in den Fokus nehmen - und das Opfer würde wieder nicht gesehen und allein in seiner Hilflosigkeit belassen. Was sie brauchte, war Mitgefühl, jemanden, der ihre seelischen Schmerzen sah und mitgetragen und ertragen hat. Und nicht jemanden, der diese Schmerzen vermeiden will und lieber in die Wut geht. Und als Ziel dieser Wut bietet sich der Täter an....
Auch bei Beileidsbezeugungen erlebe ich häufig, wie wenige wirklich Mitgefühl zeigen können. Manche versuchen da pflichtgemäß zu schauspielern, was für den Trauernden eher verletzend ist. Oder mit billigem Trost den Schmerz zu lindern suchen, was genauso verletzend ist.
Wie leidvoll war der jugoslawische Bürgerkrieg, in dem die Frauen erst von gegnerischen Gruppen vergewaltigt und dann auch von den eigenen Familien ausgestossen wurden....
Letztes Jahr bin ich auf eine in der Schweiz lebende Jugendtherapeutin gestossen, die durch ihre Veröffentlichungen international einen sehr guten Ruf geniesst. Ihre eigene Kindheit war Anlass und Grund für ihren Werdegang, um Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen - indem Erwachsene bewusster mit ihren Kindern umgehen. Als ihr inzwischen 50 jähriger Sohn befragt wurde, erzählte er von ähnlichen Erlebnissen und Verletzungen - die seine Mutter ja zu verhindern suchte, aber selbst nicht konnte.
Eine Bekannte hat sich bitter über ihre Eltern beklagt, wie herzlos die mit ihr umgegangen sind und sie verletzt und seelisch missbraucht haben. Der Kontakt zu den Eltern war abgebrochen. Als sie eigene Kinder bekam, hat sie sich große Mühen gegeben, es anders zu machen. Es ging auch gut, bis sie mit 40 das elterliche Unternehmen übernahm. Obwohl sie ihre Eltern aus dem Unternehmen rauswarf und den Kontakt wieder abbrach, hat sie die gleichen Verhaltensmuster gegenüber ihren Kindern gezeigt wie ihre Eltern damals, sogar noch übler - und es nicht sehen wollen oder können....
In einem Vortrag über "Sterben und Leben" erzählte Wolf Büntig (ein Therapeut) über den Film "Das weiße Band" - deutsche Soldaten haben russische Kinder vor den Müttern an den Füßen gepackt und ihre Köpfe an einer Wand zerschmettert. Büntig erging sich nicht in einer Verurteilung, sondern ging der Frage nach, wie so etwas überhaupt möglich war. Wie Menschen so weit abgestumpft werden können, um so viel Leid erzeugen zu können. Es ging nur durch eigene leidvolle Erfahrungen, die nicht geheilt sondern nur verdrängt waren.
Verurteilen der Täter hilft keinem Opfer - auch wenn die Opfer Genugtuung erfahren und ihre Wut Frieden findet. Das Erleben von echtem Mitgefühl ist viel wichtiger. Wem nützt die Verurteilung, zumindest scheinbar? Dem Verurteilenden, weil er sich dann als besser wähnt...
Sven, Du bist ein Deutscher und profitierst vom Wohlstand unseres Volkes - anstatt ein fröhliches Leben mit Überlebenskämpfen in den Slums von Mumbay erleben zu dürfen.
Die Deutschen haben Millionen Juden umgebracht. Und Du bist ein Mitglied dieser Gruppe, ob es Dir nun gefällt oder nicht. Die Frage ist, wie Du damit umgehst. Du hast die Variante gewählt: ich wars nicht, ich habe nichts damit zu tun. Die anderen waren es, aber ich nicht. Merkst Du nicht, wieviel Würde Du damit verlierst?
Die andere Variante ist, zu den Untaten unseres Volkes zu stehen und sie zu bedauern, die Taten. Und Mitgefühl für die Opfer zu zeigen - das hat Größe.
Einer der wenigen Politiker, der das glaubhaft konnte, war Willy Brandt.
Menschen, die ihre Eltern verurteilen, sind verflucht, genau diese verurteilten Erfahrungen zu wiederholen. Es hilft nur Verstehen der Eltern und akzeptieren - ohne Wertung. Verurteilung ist überheblich und macht blind.
Und die Sprüche: "das darf sich nie wiederholen" sind auch für die Tonne. Erzähls mal einem kleinen Kind: Du darfst die Herdplatte nicht anfassen...